Aus Angst, uns ein Bild zu zerstören Aus Angst, uns ein Bild zu zerstören
Vorwort zum Sonderheft der AUF. Frauen im Krieg und im Faschismus von 1939-1945
Wien 1989

“Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd. Frühere Leute erinnerten sich leichter: eine Vermutung, eine höchstens halbrichtige Behauptung. Ein erneuter Versuch, dich zu verschanzen. Allmählich, über Monate hin, stellte sich das Dilemma heraus: sprachlos bleiben oder in der ditten Person leben, das scheint zur Wahl zu stehen.”
Christa Wolf, Kindheitsmuster

Als während der ersten beiden Jahre des Zweiten Weltkrieges eine Siegesmeldung die andere ablöste, freuten sich viele Österreicher und Österreicherinnen darüber. Auch ihnen würde morgen ein Teil der ganzen Welt gehören, meinten sie, auch sie würden profitieren von der Eroberung der Gebiete in Osten und Westen. Bis heute stellen viele von ihnen die Sinnhaftigkeit des Zweiten Weltkrieges nicht in Frage, es tut ihnen nur leid, daß er verloren worden ist.

Wenn ich selbst mich zurückerinnere, was ich als junges Mädchen in einem kleinen Dorf im nördlichen Niederösterreich über den Zweiten Weltkrieg erfahren habe, dann sehe ich Photos vor mir von jungen Männern in Uniform, Männer, die meine Onkel oder Cousins gewesen wären. Ich höre Erzählungen von Frauen, die während der ersten Jahre des Nationalsozialismus eine schöne Zeit in den Lagern des Reichsarbeitsdienstes erlebt hatten, eingebettet in eine fröhliche Gemeinschaft, scheinbar unabhängig, fernab vom Elternhaus. Mir wurde von den Fliegerangriffen und den Bombardierungen berichtet und vom angstvollen Warten im Luftschutzkeller. Sonst hörte ich nicht viel von diesem Krieg. Weit mehr und Aufregenderes wurde mir über die sogenannen Russen nach 1945 in unserer Ortschaft erzählt. Obwohl ich als Kind nie einen von ihnen gesehen hatte, fürchtete ich mich noch als junges Mädchen vor ihnen.

Die Opfer tauchten nicht auf in den Erzählungen, die Rom und die Sinti, die nicht mehr durchs Land zogen, die Juden und Jüdinnen, die verschwunden waren, und in deren Wohnungen nun Menschen mit Ariernachweis lebten. Nichts hörte ich vom Niederbrennen hunderter Dörfer in der Sowjetunion durch die Wehrmacht und die SS, von Massakern an Juden und Zigeunern in Jugoslawien, nichts von den 20 Millionen Toten der Sowjetunion und von den tausenden Opfern in Belgrad, bombardiert durch Fliegerverbände kommend aus Graz, Wr. Neustadt und Zwölfaxing, an einem Sonntagmorgen im Frühling des Jahres 1941, ohne Kriegserklärung und ohne Vorwarnung. Niemand berichtete von den sechs Millionen ermordeten Juden und auch nicht von dem einen in unserem Ort, der verschwunden war. Ich hörte: Wir waren arm, wir haben gelitten, wir haben nichts gewußt.

Die meisten von uns sind mit ähnlichen Erzählungen aufgewachsen.
Ich nehme an, viele haben während des Krieges manches wirklich nicht gewußt. Aber konnten sie übersehen, was sich in den Straßen und Gassen der Städte und Dörfer veränderte? Gingen die vielen Verschwundenen niemandem ab? Nahm man die ausländischen ZwangsarbeiterInnen und Kriegsgefangenen, die in Lager, verstreut in ganz Österreich, gesperrt waren, die auf Bauernhöfen und in Fabriken arbeiten mußten, nicht wahr? Sechs Millionen Männer und Frauen, vor allem aus der Sowjetunion und Polen, waren in das “Deutsche” Reich verschleppt worden, 580.000 davon in die sogenannte “Ostmark”. Ihre Lebensbedingungen hier waren menschenunwürdig, sehr viele von ihnen starben an Hunger, entkräftet und erschöpft. Fand das die österreichische Bevölkerung normal? Und: Versuchte sie, mehr zu erfahren? Damals und in den Jahren danach?

Viele unserer Mütter waren Mitläuferinnen des NS-Regimes. Durch ihr Nicht-Wissen-Wollen, ihr Nicht-Fragen, ihr Mit-Laufen trugen sie zu dessen Aufechterhaltung bei. Obwohl selbst unterdrückt von der Männerherrschaft dieses Systems, identifizierten sich manche mit dessen Macht. Sie wurden Teil einer großen Bewegung, verbunden durch eine Ideologie, die auch sie den sogenannten Herrenmenschen zuordnete. Es gab auch Frauen, welche die Verfolgung sogenannter Untermenschen befürworteten, die den Vernichtungskrieg als gerechtfertigt ansahen, die nicht nach den Folgen für die Opfer fragten. Interne Berichte von NS-Stellen geben Auskunft über die Stimmung der Bevölkerung während des Krieges, die sich damals zum größten Teil aus Frauen zusammensetzte. Wenn die Wehrmacht Siege zu verzeichnen hatte, wenn sie einfiel in fremdes Gebiet, war die Stimmung gehoben. Viele freuten sich auch über die Pakete, die ihre Männer und Brüder aus den okkupierten Ländern schickten, die Lebensmittel enthielten, manchmal auch Textilien, anderen Frauen geraubt, die nun vielleicht tot waren, erschossen oder verbrannt.

Sicher war es – vor allem für junge Mädchen – schwer, sich der nationalsozialistischen Porgaganda zu entziehen, die politischen Hintergünde zu erkennen. Viele der Frauen hatten auch keine Erfahrung darin, gegen Autoritäten und herrschende Zwänge zu agieren, sie hatten gelernt sich anzupassen, keine eigenen Haltungen und Meinungen zu entwickeln, mitzulaufen dort, wo ein eigener Vorteil in Aussicht stand. Das beinahe lückenlose Netz der Überwachung und die Flut der Progaganda erschwerten es zusätzlich, ein gegen die herrschende Ordnung gerichtetes Denken und Handeln zu entwickeln.

Aber auch nach der Niederschlagung des NS-Regimes wurde nach der eigenen Beteiligung und Veranwortung nicht gefragt. Nun, da der Krieg verloren war, wollte man vergessen. Der Schutt sollte rasch von den Straßen veschwinden, und vom Glück, das einem vor Jahren versprochen worden war, versuchten viele, nun doch noch ein Stück zu erreichen. Das individuelle Vergessen-Wollen stand in Einklang mit der staatlichen Politik, die das Verdrängen zur offiziellen Praxis der Vergangenheitsbewältigung machte. Ein Klima wurde geschaffen, das einen wehleidigen Blick auf die eigene Geschichte förderte, anstatt einen kritischen zu schärfen. Wir sind in einem Land aufgewachsen, das die Täter und Täterinnen schonte, den WiderstandskämpferiInnen und Opfern aber nur sehr langsam und widerwillig Opferrrenten und Wiedergutmachungen zugestand. Das Leid der KZ-Häftlinge wurde beiseite geschoben. Viele von ihnen hörten nach ihrer Heimkehr den Satz: “Na, wenn Sie wieder da sind, kann’s ja nicht so arg gewesen sein”. Die Täterin Hermine Ryan-Braunsteiner aber, Österreicherin, KZ-Aufseherin in Ravensbrück und KZ-Oberaufseherin in Majdanek, mitbeteiligt an Massentötungen, wurde 1949 in Wien nur mit drei Jahren Kerker bestraft, dann entließ man sie. Bis sie 32 Jahre später beim Majdanek-Prozeß in der Bundesrepublik Deutschland zu lebenslänglicher Haft verurteilt wurde. Und noch heute werden slowenische Partisanen und Partisaninnen als Banditen beschimpft, obwohl ihr Widerstand als wesentlichster eigener Anteil zur Befreiung Österreichs galt und mit eine Voraussetzung für den Staatsvertag bildete.

Die Frauenbewegung hat lange gewartet, bi sie begann, sich sowohl mit der Rolle der Frauen als Täterinnen als auch mit jener der Mitläuferinnen dieses Systems auseinanderzusetzen. Zu Beginn galt das Interesse für diese Zeit der nationalsozialistischen Frauenideologie, die Frauen als minderwertige und geistig beschränkte Wesen sah, deren angeblich ureigene Aufgabe es sei, möglichst viele Kinder zu gebären und aufzuziehen. Dagegen war es leicht, sich zu entrüsten. Die Frauenforschung griff auch die Geschichte jener Frauen auf, die mutig und listig gegen dieses System aufbegehrt, die unter Einsatz des eigenen Lebens andere Leben gerettet hatten. Mit diesen Frauen wollten wir uns identifizieren, an ihnen hielten wir uns fest. Sie gaben uns Kraft, und wir waren froh, daß es sie gegeben hatte. Erst später wandten sich Forscherinnen der Rolle einiger Frauen als Täterinnen zu, jenen, die direkt Gewalt ausgeübt, und jenen, die geholfen hatten, die ideologischen Grundlagen zu schaffen. Von ihnen konnten wir uns relativ klar abgrenzen, es waren auch nicht so viele. Mit der Rolle der vielen Mitläuferinnen aber wollten wir uns nicht konfrontieren, nur zögernd begannen wir, über ihr Handeln in diesem System nachzudenken. Weder waren sie eindeutige Opfer, noch waren sie eindeutige Täterinnen. Ihr Akzeptieren eines extrem rassistischen, terroristischen und frauenfeindlichen Systems wollten wir uns nicht zu nahe kommen lassen. Viele Frauen meiner Generation haben Mütter oder Großmütter, die keinen Widerstand geleistet haben, die meisten von ihnen hatten sich den herrschenden Bedingugnen angepaßt. Am liebsten würden wir sie heute noch schützen vor unseren eigenen Fragen. Aus Angst vor ihren Antworten und aus Angst, uns selbst ein Bild zu zerstören.

Die meisten von uns können sich erinnern an eine Jugend ohne Krieg, können sich den Vorwurf ersparen, an diesem mörderischen System beteiligt gewesen zu sein. Aber wir erlebten unsere Kindheit und Jugend in einer Atmosphäre, die geprägt war vom kollektiven schwachen Gedächtnis jener Generation, die den Krieg an der Seite der Aggressoren mitgetragen hatte. Ich nehme an, dies hat auch in uns Wurzeln geschlagen.

Unser “Niemals vergessen!” ist gut gemeint, aber haben wir eine Vorstellung davon, was wir alles nicht vergessen dürfen? Welche Bilder tragen wir noch in uns von den Erzählungen unserer Kindheit? Wie unvollständig und wie verzerrt sind sie? Was haben wir übernommen von der herrschenden Ignoranz und Bewußtlosigkeit in diesem Land?

Ich meine, heute, 50 Jahre nach Kriegsbeginn, ist es höchste Zeit, uns diese Fragen zu stellen. Nicht nur, um zu erfahren, wie dieses System funktionieren konnte, sondern auch, um uns mit der gegenwärtigen politischen Situation zu konfrontieren, um das heutige Mitläufertum erkennen zu können. Ausländerhaß, Diskriminierung der Behinderten, Verachtung der SlowenInnen und KroatInnen, der Rom und der Sinti, die Entwicklungstendenzen der Gen- und Reproduktionstechnologie und alle gegen uns Frauen gerichteten Angriffe sind nicht nur Folgen einer von oben gemachten Politik. Sie werden auch heute getragen von der immer noch vorherrschenden Lebenshaltung des Sich-Anpassens, der Ignoranz, der Unfähigkeit, gegen die herrschenden Verhältnisse zu kämpfen, von der Haltung des Mitläufertums.
Karin Berger, September 1989


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